EKD-Denkschrift zur Familie
Kapitel 2
Zwischen Autonomie und Angewiesenheit
- Familienleben heute
Dieser Abschnitt beginnt mit einem Bibeltext:
Es ist nicht gut, daß der Mensch allein sei.
Dies ist ein Teil des Verses 1.Mose 2, 18
Und Gott der HERR sprach: Es ist nicht gut, daß der Mensch allein sei;
ich will ihm eine Gehilfin machen, die ihm entspricht!
Wie gut, dass man Verse auch teilweise zitieren kann, sonst wäre man doch gleich in unruhiges Fahrwasser geraten.
Einerseits hätte man akzeptieren müssen, dass Gott hier spricht und Eigenschaften des Menschen in der Autorität des Schöpfers setzt.
Zum anderen hätte man bemerken müssen, dass es hier nicht um irgend eine Zwei- oder Mehrsamkeit geht, sondern um das Verhältnis Mann und Frau.
Allerdings muss man bei dem Wort Gehilfin schon vorsichtig sein. Es ist nicht ein anderes Wort für Hilfsarbeiter.
Immerhin, hier steht am Anfang die Beziehung zwischen Mann und Frau als Fundament für Familie. Dies hätte man hier schon aus dem Text
herauslesen können und sicherlich auch deutlich machen müssen.
Liest man ein wenig weiter, so folgt erstaunlich Lebensnahes: 1.Mose 2, 22-25: (22) Und Gott der HERR baute aus der Rippe,
die er von dem Menschen genommen hatte, ein Weib und brachte sie zu ihm. (23) Da sprach der Mensch: Das ist nun einmal Bein
von meinem Bein und Fleisch von meinem Fleisch! Die soll Männin heißen; denn sie ist dem Mann entnommen! (24) Darum wird der
Mensch seinen Vater und seine Mutter verlassen und seinem Weibe anhangen, daß sie zu einem Fleische werden. (25) Und sie waren beide nackt,
der Mensch und sein Weib, und schämten sich nicht. Der Mann erkennt, dass die Frau von gleicher Art ist, wie er selbst -
Fleisch von meinem Fleisch. Und Adam erkennt, dass das Verhältnis zu seiner Frau alle anderen sozialen Verhältnisse überschreibt:
Darum wird der Mensch seinen Vater und seine Mutter verlassen und seinem Weibe anhangen. Und er erkennt auch die überwältigende Kraft,
die in der geschlechtlichen Vereinigung liegt: Darum wird der Mensch ... seinem Weibe anhangen, daß sie zu einem Fleische werden.
Und schließlich wird diese Einheit so tiefgehend sein, dass sie jede Täuschung des anderen, jede Verheimlichung, jede Verdeckung ausschließt:
Und sie waren beide nackt, der Mensch und sein Weib, und schämten sich nicht. In diesen Versen steht sehr tiefgründiges über die Ehe,
das bis heute gilt.
- (Aus 2) Familie - das sind nach wie vor Eltern (ein Elternteil
oder zwei) mit ihren leiblichen, Adoptiv- oder Pflegekindern,
vielleicht erweitert um die Großelterngeneration. Familie,
das sind aber auch die so genannten Patchwork-Familien,
die durch Scheidung und Wiederverheiratung entstehen, das
kinderlose Paar mit der hochaltrigen, pflegebedürftigen Mutter und das gleichgeschlechtliche Paar mit den Kindern aus
einer ersten Beziehung. Die Menschen, die wir zur Familie
zählen, leben nicht unbedingt gemeinsam unter einer Adresse
- das heißt aber nicht, dass es nicht liebevolle Zuwendung,
vielfältigen Austausch, Unterstützung, Hilfeleistung, Gespräche,
kurz: familiales Zusammengehörigkeitsgefühl gibt.
So beginnt der zweite Absatz des angesprochenen Textes - erstaunlich süßlich werden hier die Folgen von Zerbruch, von Trennung und
Verantwortungslosigkeit zusammengefasst und undifferenziert als Familie über das familiale Zusammengehörigkeitsgefühl definiert.
Meines Erachtens lässt man hier den Menschen, der diesen Zerbruch erlebt hat und darunter leidet, allein. Dies hat so ein wenig das Niveau von:
„Shit happens“: Mach Dir nichts draus, nun ist ja alles wieder gut.
Ist die Patchworkfamilie Ergebnis eines gesellschaftlichen Konsenses oder ist sie eine Folge von Fehlverhaltens?
Selbst im ersten Fall ist zu fragen, ob Christen diesen Konsens teilen. Im zweiten Fall ist auf jeden Fall eine Auseinandersetzung
mit dem Fehlverhalten erforderlich, ehe dann zu fragen ist, wie seelsorglich mit einem Menschen umzugehen ist, der in diese Situation
hineingeraten ist. So wie Krankheit nicht allein dadurch zu Wohlergehen wird, dass ich sie zum Normalzustand erkläre, so ist es auch mit Sünde.
Sünde ist der Regelfall. Kein Mensch ist ohne Sünde. Erst wenn wir beginnen, uns da Illusionen zu machen, dann wird die Sünde für uns zum
Lebens-bedrohenden Problem. Der Sünder, der Vergebung sucht, wird sie bekommen. Der Mensch, der meint, er sei ohne Sünde, wird auch nicht
nach Vergebung suchen. Jesus bringt dies in der Auseinandersetzung mit den Pharisäern sehr deutlich zum Ausdruck (Johannes 9, 39ff):
Und Jesus sprach: Ich bin zum Gericht in diese Welt gekommen, auf dass die, welche nicht sehen, sehend werden und die, welche sehen,
blind werden. Solches hörten etliche der Pharisäer, die bei ihm waren, und sprachen zu ihm: Sind denn auch wir blind? Jesus sprach zu ihnen:
Wäret ihr blind, so hättet ihr keine Sünde; nun ihr aber saget: Wir sind sehend! so bleibt eure Sünde. oder in 1.Johannes 1, 8ff:
Wenn wir sagen, wir haben keine Sünde, so verführen wir uns selbst, und die Wahrheit ist nicht in uns; wenn wir aber unsere Sünden bekennen,
so ist er treu und gerecht, daß er uns die Sünden vergibt und uns reinigt von aller Ungerechtigeit. Wenn wir sagen, wir haben nicht gesündigt,
so machen wir ihn zum Lügner, und sein Wort ist nicht in uns. Der Mensch, der meint, er sei ohne Sünde, bleibt in seiner Sünde. Eine Kirche,
die dies verschweigt, macht sich schuldig.
- (Aus 3) Gleichzeitig liegt Deutschland mit einem Kinderwunsch
von 1,7 Kindern im europäischen Vergleich extrem niedrig
(Ruckdeschel/Dorbritz 2012). Als Gründe dafür gelten das
traditionelle Familienbild im Westen, das es besonders den
gut qualifizierten Frauen sowohl auf der normativen wie
auch der alltagspraktischen Ebene schwer macht, Familie und
Beruf zu vereinbaren. In Ostdeutschland liegt zwar die Kinderwunschrate
höher, jedoch werden häufig Kinderwünsche
angesichts der immer noch schwierigen wirtschaftlichen Lage
aufgeschoben.
Dieses Zitat ist ein gutes Beispiel für die Tendenz die EKD-Orientierungshilfe. Es ist schwer, Familie und Beruf miteinander zu vereinbaren.
Das ist der Befund. Und was ist der daraus resultierende seelsorgliche Rat? Der folgende Text steht stellvertretend für die Argumentation
dieser Schrift:
- (Aus 7) Lange Ausbildungszeiten und schwierige Berufseinstiege
haben zur Folge, dass die Familiengründung im Lebenslauf
immer weiter hinausgeschoben wird: Das Durchschnittsalter
der Frauen bei Geburt des ersten Kindes liegt gegenwärtig
bei 29 Jahren (Ostdeutschland: 27 Jahre), 60 % der Kinder
werden von 26- bis 35-jährigen Müttern geboren (Statistisches
Bundesamt 2012: 9f.). Dazu gehört, dass die Ehe zunehmend
nicht mehr Voraussetzung, sondern Folge gemeinsamer Kinder
ist: Ein Drittel aller Kinder wird gegenwärtig nichtehelich
geboren. Das sind doppelt so viele wie noch vor zwanzig Jahren
(Statistisches Bundesamt 2012, 18). Hier besteht ein markanter
deutsch-deutscher Unterschied: Im Westen Deutschlands
werden 27 % der Kinder außerhalb der Ehe geboren,
im Osten 61 % (Statistisches Bundesamt 2012, 19). Der sinkenden
Attraktivität der Ehe entspricht auch ein Rückgang
kirchlicher Eheschließungen. Ließen sich 1990 von den ca.
500.000 Ehepaaren noch 100.000 evangelisch und 110.000
Paare katholisch trauen, waren dies 2003 von den nur noch
380.000 Eheschließungen 56.000 evangelische und 50.000
katholische Trauungen. Das ist eine Abnahme von 14 % der
kirchlichen Trauungen in nur 13 Jahren (EKD-Texte 101).
Es ist eine gute Ist-Stand-Beschreibung. Aber die Betroffenen werden allein gelassen. Ein seelsorglicher Rat erfolgt nicht.
Ganz kühn werden die Autoren in dem folgenden Absatz:
- (Aus 8) Eine Trennung oder Scheidung der Eltern
führt akut zu einer deutlichen Belastung bei Kindern,
langfristig lassen sich bei der überwiegenden Mehrheit keine
negativen Folgen feststellen, im Gegensatz zu Familien, in
denen Konflikte über Jahre hinweg andauern (Walper/Langmeyer
2008). Für eine gelingende (Wieder-)Herstellung von
Verbindlichkeit in den vielfältigen Familienformen und den
sich im Laufe einer Familienbiografie mehrfach verändernden
Konstellationen stehen oft noch keine angemessenen kirchlichen
Rituale zur Verfügung.
Hier wird, versteckt in Wissenschaftlichkeit, die Scheidung als das geringere Übel dargestellt. Dies mag man ja noch hinnehmen,
wenn man es in ein seelsorgliches Umfeld einbettet, in dem alle anderen Möglichkeiten ausgeschöpft sind. Aber die Autoren gehen
kühn einen anderen Weg: Die Kirche möge die Rituale bereitstellen, um diesen Vorgang zu begleiten. Etwa so: „Ich scheide
Euch im Namen des... Bis dass der Tod euch wieder zusammenführt.“ Es tut weh, solche Vorschläge zu lesen, denn sie zeigen
in schmerzlicher Offenheit, welcher Geist sich hier offenbart. Paulus schreibt im 1. Bief an die Korinther über einen Fall von
Unzucht in der Gemeinde. Diesen Fall wollen wir hier nicht nennen, wohl aber die Kritik, die Paulus an der Gemeinde hat: (1.Kor. 5, 2)
Und ihr seid aufgebläht und hättet doch eher Leid tragen sollen, ... Dieses vermisse ich in dem ganzen Papier, dass eine
Kirche Leid darüber trägt, dass sich ihre eigenen Mitglieder von dem Vermächtnis, das sie besitzt, der Bibel, so nachhaltig lösen
und eigene Wege gehen.
Sollte eine Kirche nicht junge Menschen ermutigen,
- ihr gemeinsames Leben unter den Segen Gottes zu stellen.
- frühzeitig Kinder zu haben, damit das Kind mit 16 Jahren noch einigermaßen junge Eltern hat.
- Verzicht zu üben, weil das Kind immer noch die bleibende Investition für das Alter ist, weniger finanziell, aber mental.
- den beruflichen Karrierewunsch klar an die zweite Stelle zu rücken und die Familie als eigentliche Lebensaufgabe zu erkennen.
Dies ist sehr unpopulär und wird unseren wirtschaftlichen Interessen auch nicht gerecht. Es ist aber im wohlverstandenen Interesse
jeden einzelnen Menschen. So wie die Studie den Wunsch der Menschen nach Familie hervorhebt: In Kapitel 2 Abschnitt 3 heißt es:
- Junge Männer und Frauen haben ganz überwiegend den Wunsch, Familien zu gründen und mit Kindern zu leben.
Warum stellt man dies nur fest, ohne die seelsorgliche Ermutigung damit zu verbinden, diesen Weg auch konsequent zu gehen.
Man würde dann in der Tat das Menschenbild der ehemaligen DDR verlassen, das diese Studie doch an vielen Stellen prägt.
Oder man käme in die Nähe von Bibeltexten, die vielleicht als peinlich empfunden werden: Im ersten Brief an Timotheus schreibt Paulus:
(1.Tim. 2, 8ff)
So will ich nun, daß die Männer an jedem Ort beten, indem sie heilige Hände aufheben ohne Zorn und Zweifel; ebenso,
daß die Frauen in sittsamem Gewande mit Schamhaftigkeit und Zucht sich schmücken, nicht mit Haarflechten oder Gold oder Perlen
oder kostbarer Kleidung, sondern, wie es sich für Frauen geziemt, welche sich zur Gottesfurcht bekennen, durch gute Werke.
Eine Frau lerne in der Stille, in aller Unterordnung. Einer Frau aber gestatte ich das Lehren nicht, auch nicht daß sie über
den Mann herrsche, sondern sie soll sich still verhalten. Denn Adam wurde zuerst gebildet, darnach Eva. Und Adam wurde nicht verführt,
das Weib aber wurde verführt und geriet in Übertretung; sie soll aber gerettet werden durch Kindergebären, wenn sie bleiben im Glauben
und in der Liebe und in der Heiligung samt der Zucht. Ist dieser Text einfach nur peinlich? Oder hat er uns etwas zu sagen?
Gibt er vielleicht einen Hinweis auf unsere Lebensprioritäten? Was hat er uns heute zu sagen? Was würde Paulus in die heutige Zeit
hinein sagen? Da schweigt die Studie und aus ihrer Begeisterung über die DDR-Verfassung ist vielleicht herauszulesen, dass es ihr am Ende
nur peinlich ist und der Text deshalb gar nicht erst zitiert wird.
Dabei kann man auch heute noch Zuspruch aus diesem Text lesen. Oberflächlich gelesen drehen wir es gerne um. Der Mann herrsche.
Das steht da aber nicht. Es steht nur, die Frau herrsche nicht. Oberflächlich gelesen klingt es so, als darf der Mann Karriere
machen, die Frau bleibe gefälligst zu Hause. Auch das steht dort nicht. Der Mann erhebe seine Hände zum Gebet, ohne Zorn und Zweifel.
Die Kindererziehung erhält durch diesen Text einen ganz hohen Stellenwert. Wenn eine Frau Kinder gebiert, so ist dies schon ausreichend
für ihre Rettung. Sie muss nicht noch dies oder jenes tun, die Erziehung der eigenen Kinder im Glauben, in der Liebe und in der Heiligung
ist ihr ausreichendes Werk. Das schließt weitere gute Werke nicht aus. Aber es sollte Männer wie Frauen zu denken geben, wenn der Stress
nur noch durch Alkoholismus oder Tabletten zu bewältigen ist. Dieser Text setzt eine andere Priorität. Sicherlich kann er auch als Schwert
gegen die Frau gelesen werden, die dann nicht einmal mehr eine Kinderstunde halten darf. Ob und wo da Grenzen zu ziehen sind, ist eine sehr
subtile Frage, die jede Kirche sehr behutsam und seelsorglich für sich entscheiden muss. Aber der Text ist viel zu wertvoll, als dass man
ihn einfach so und als peinlich übergeht. Er zeigt, dass die Priorität bei Gott und in der Familie liegt und die wirtschaftliche Betätigung
dem untergeordnet ist. Auch diese Botschaft wird heute nicht gerne gehört.
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Familienpolitik als neue Form sozialer Politik
Wie Kirche und Diakonie Familien stark machen können |
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